Sich ungerecht behandelt zu fühlen, tut jedem weh und kann sich anfühlen wie ein Messerstich in die Brust. Wie in einer Wellenbewegung wechseln sich Emotionen der Verletztheit mit Wut und Aggression ab. Wenn die Phase der Wut und Aggression gerade auf ihrem Höhepunkt ist, gesellen sich gerne Rachegelüste dazu. Man stellt sich vor, was man dem oder der anderen gerne antun würde. Doch sind Rachegefühle erlaubt? In unserer westlichen Gesellschaft, die über Jahrtausende stark von der christlichen Kirche geprägt ist, herrscht doch eher das Bild von der linken und rechten Wange.
In diesem Blogbeitrag möchte ich näher auf die in unserer Gesellschaft eher verpönte Emotion der Rache eingehen und wie wir sie in einem Prozess der Heilung nutzen können.
Zorn, Wut und Verletztheit
Zorn und Wut, welche der Rache zugrunde liegen, sind starke Affektreaktionen. Sie sind begleitet von heftigen Symptomen unseres vegetativen Systems, wie einem Zittern oder dem Ansteigen des Blutdrucks und des Pulses. Solltest du noch nicht wissen, was das vegetative System ist, empfehle ich dir meinen Blogbeitrag zu diesem Thema: „Das vegetative System – unsere innere Kraft jenseits von Raum und Zeit„
Wut ist an sich eine stärkende, wachstumsfördernde Emotion, solange sie an das Objekt oder Subjekt der Wut gerichtet ist. Dadurch vermitteln wir, dass eine unserer Grenzen überschritten wurde. Wir sagen damit dem anderen „Stopp, bis hierhin und nicht weiter.“ Viele haben heute die Fähigkeit Stopp zu sagen, wenn es genug ist, verloren und so richtet sich die Energie der Wut nach innen, gegen uns. Die zerstörerische Kraft der Wut kennt sicher jeder von uns, egal ob wir diese Energie nach außen an das Ziel-Objekt oder -Subjekt richten oder gegen uns selbst. Rache kann uns unter anderem dabei helfen, die zerstörerische Kraft ein wenig abzufedern, indem wir die unkontrollierte Affektreaktion der Wut automatisch in eine kontrollierte, durchdachte und überlegte Reaktion umwandeln.
Rache als Sofortmaßnahme
Empfinden wir Rache, kann als Sofortmaßnahme helfen, der Rache in Gedanken zu folgen und ich betone: nur in Gedanken! Vielleicht braucht es mehrere Male, in denen wir Situationen in Gedanken so realistisch wie möglich durchgehen, in denen wir Rache verüben. Auf jeden Fall hilft es uns dabei, wieder klarer zu werden und das Geschehene aus anderen Perspektiven zu betrachten und vor allem auch das eigene Mitwirken zu beleuchten.
Erst wenn wir etwas klarer denken können, Rache, Wut und Aggression abgeklungen sind, können wir einen Blick dahinter werfen, daraus etwas lernen und letztlich daran wachsen.
Was liegt hinter der Rache?
Bedenken wir, dass wir selbst dafür verantwortlich sind, was uns im Leben passiert, welche Menschen wir in unser Leben einladen, wer länger bleiben darf und wer bald wieder aus unserem Leben verschwindet. Mit all unseren Werten, Glaubenssätzen, Erfahrungen und Verstrickungen, ja, mit jeder Entscheidung gestalten wir selbst unser Leben – auch die nicht so tollen Dinge. Und ja, diese Einsicht kann schmerzhaft sein, ist es doch so viel leichter schlimme Dinge dem Universum, Gott, anderen Menschen oder Institutionen in die Schuhe zu schieben. Sprüche wie: „Da kann ich doch nichts dafür!“, oder „Na, was hätte ich denn machen sollen?“ sind gängig, um die Eigenverantwortung abzugeben und sich als Opfer der Umstände zu sehen.
Rache täuscht gerne über die Eigenverantwortung unseres Handelns und unserer Entscheidungen hinweg. Sich einzugestehen, dass man versagt hat, sich in einer Situation hilflos und ohnmächtig gefühlt hat oder schädliche Verhaltens- und Glaubensmuster vorhanden sind, ist der wesentlichste Schritt zu einer nachhaltigen Veränderung des eigenen Lebens.
Der Mensch als soziales Lebewesen
Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht zwingend Bindungen zu anderen Menschen und damit meine ich nicht 500 Facebook-Freunde, sondern damit meine ich echte, tiefe Bindungen zu anderen Menschen. Die beiden großen Triebfedern eines unglücklichen Lebens und somit Nährboden für Rache sind die Angst vor Liebesentzug und emotionale Unterversorgung. Beide Triebfedern sind Kränkungen, die uns krank machen.
Eltern haben Angst, von ihren Kindern nicht geliebt zu werden, und setzen ihrem Nachwuchs keine oder zu wenig Grenzen. Wir haben Angst, dass uns unsere Freundin nicht mehr lieb hat, wenn man ihr ein ehrliches Feedback über die neue Frisur gibt. Beispiele für Angst vor Liebesentzug gibt es wie Sand am Meer und ich bin mir sicher, dass auch du ein eigenes Beispiel dafür findest. Ist es wirklich wahr, dass wir nicht geliebt werden, wenn wir Grenzen setzen, wenn wir ehrlich sind oder wenn wir Klarheit vor Harmonie stellen? Ist das wirklich wahr, immer? Was bedeutet Liebe für dich und womit hast du selbst verursacht, dass du Angst vor Liebesentzug hast und ist die Angst wirklich real?
Angst vor Liebesentzug und emotionale Unterversorgung
Die Angst vor Liebesentzug wird noch verstärkt durch die emotionale Unterversorgung unserer Gesellschaft, welche in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen hat – man denke nur an die gewollte Isolation in den Pandemie-Jahren. Angst, egal wovor und egal ob real oder nicht, ist die größte Blockade für unser Wachstum, für Veränderung. Leben bedeutet nun mal Veränderung und Transformation – Angst davor zu haben, bedeutet Angst vor dem Leben zu haben. Auch hier haben wir es selbst in der Hand, wie unser Sozialleben aussieht, welche Menschen in unserem Leben sind und wie die Bindungen zu diesen Menschen gestaltet sind. Selbst Menschen in Paarbeziehungen können an Einsamkeit leiden. Es ist vollkommen egal, wie der Kontext aussieht, in dem wir leben. Das heißt, es ist vollkommen egal, welche Regeln und Richtlinien gerade in unserer Gesellschaft herrschen, denn jeder kann im eigenen Wirkungskreis aktiv werden und für stabile, tiefe, wohltuende Bindungen sorgen, dann ist die emotionale Unterversorgung kein Thema mehr.
Viktor Frankl: WIDEG – Wofür ist das eine Gelegenheit?
Von Viktor Frankl stammt die WIDEG-Frage: Wofür ist das eine Gelegenheit?
Vielleicht ist dieser Blogartikel eine gute Gelegenheit für dich, die Beziehungen in deinem Leben zu beleuchten, zu hinterfragen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. Oder vielleicht ist es eine Gelegenheit für dich, dich zu fragen, was du alles tust, nur um scheinbar geliebt zu werden, egal, was es kostet und selbst wenn es dein eigenes Leben ist.