Dem vegetativen System kommt in den letzten Jahren immer mehr Bedeutung zu. Vor allem die Psychoneuroimmunologie, beschäftigt sich intensiv mit den Zusammenhängen der Psyche und des Immun- und Hormonsystems. DDr. Christian Schubert hat dazu bereits einen enormen Beitrag geleistet.
In diesem Blogbeitrag möchte ich das vegetative System näher beleuchten, denn ich bin der Meinung, dass dieses System nicht nur für psychosoziale Berater, Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiater für ihre Arbeit wichtig ist, sondern dass jeder Mensch von diesem Wissen profitieren kann. Ich möchte betonen, dass ich das vegetative System so einfach wie möglich erkläre und all die medizinischen Details und tiefen Hintergründe und Zusammenhänge der Einfachheit weglasse. Es steht jedem frei, tiefer und detaillierter in dieses Thema einzutauchen.
Warum ist das vegetative System so wichtig für uns?
Bevor ich auf die einzelnen Teile und Bereiche des vegetativen Systems eingehe, möchte ich auf die allgemeine Funktion eingehen. Das vegetative System steuert alle unbewussten Körpervorgänge wie Blutdruck, Herzschlag, Atmung, Fruchtbarkeit, Stoffwechsel und Verdauung, Immunabwehr, Pupillengröße, usw. Das sind alles Vorgänge im Körper, die wir mit unserem bewussten Verstand nicht beeinflussen oder steuern können. Natürlich können all diese Vorgänge von außen mit diversen Mitteln beeinflusst werden, so kann z.B. die Pupillengröße mit Atropin verändert werden, der Stoffwechsel kann mit z.B. Kaffee angeregt werden oder wir können kurzfristig eine andere Körperhaltung einnehmen, also zum Beispiel die Schultern nicht hängen lassen.
All diese Eingriffe von außen sind Eingriffe in unser natürliches Gleichgewicht des Menschen, und bewirken immer einen Ausgleich an einem anderen Punkt in unserem Körper. Trinke ich zum Beispiel Kaffee, bin ich hellwach und kann vielleicht auch länger wach bleiben, hab mehr Energie. Die Kehrseite der Medaille oder der Ausgleich ist, dass ich diese geborgte Energie irgendwann zurückgeben oder ausgleichen muss. Tue ich das nicht, läuft mein Organismus ständig auf Hochtouren und ich denke, du weißt, was mit einem Motor passiert, der ständig Vollgas gibt: Richtig, er geht schneller kaputt. Wenn wir Menschen ständig Vollgas geben, bedeutet das, dass wir schneller altern, eher krank werden, damit unser Organismus endlich die lang ersehnte Ruhe bekommt.
Man kann sich das so vorstellen: auf einer Kinderwippe am Spielplatz sitzen zwei etwa gleich schwere Kinder und wippen – hier ist das Gleichgewicht ausgewogen und das Wippen fällt den beiden Kindern leicht, sie haben Freude daran und lachen viel. Die Mutter des einen Kindes meint nun, das kleine Geschwisterchen auf der einen Seite der Wippe dazusetzen zu müssen. Nun ist auf der einen Seite der Wippe mehr Gewicht als auf der anderen. Eine Zeit lang wippen die Kinder auch, bis das Kind, welches mit dem Geschwisterchen sitzt, es als zu anstrengend empfindet, weil ihm die Füße von dem harten Aufprall weh tun, und mit dem Spiel aufhört.
Das Gleichgewicht des Menschen, Homöostase genannt, ist wie diese Wippe und wenn wir auf der einen Seite etwas verändern, wird dieses Gleichgewicht gestört. Heutige Zivilisationskrankheiten, wie hoher Blutdruck, Verdauungsstörungen, Essstörungen, Stoffwechselstörungen, Unfruchtbarkeit, schwaches Immunsystem, usw. sind ein Zeichen dafür, dass das Gleichgewicht vieler Menschen heute völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist und viele sterben auch in weiterer Folge daran.
Das autonome Nervensystem: drei Nervenbahnen
Im Wesentlichen besteht das vegetative System aus dem autonomen Nervensystem, zu dem im Wesentlichen das Stammhirn und der Vagusnerv zählt und dem Hormon- und Immunsystem. Wenn von Hormonsystem die Rede ist, sind nicht nur die Sexualhormone Östrogen oder Testosteron gemeint, sondern auch Stoffwechselhormone wie Thyroxin, das „Glückshormon“ Serotonin, das „Muntermacherhormon“ Adrenalin oder körpereigene Endorphine zur Schmerzlinderung. Natürlich gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Hormone, doch das würde hier zu weit führen. Wer dazu mehr wissen möchte, dem empfehle ich das Buch „Molecules of Emotion“ von Candace B. Pert, darin werden unsere Emotionen als Hormon-Cocktail entschlüsselt.
Das autonome Nervensystem ist evolutionär betrachtet wesentlich älter als das zentrale Nervensystem. Was wir heute unter Gehirn verstehen zählt zum zentralen Nervensystem. Früher wurde das autonome Nervensystem in Sympathikus und Parasympathikus eingeteilt. Dank der Polyvagal-Theorie von Steven W. Porges weiß man heute, dass es drei Teile des Vagusnervs gibt:
- Ein Teil davon ist aktiv, wenn wir uns in unserem sozialen Umfeld wohl und geborgen fühlen, dann ist alles im grünen Bereich. Stephen Porges nennt diesen Teil den ventralen Vagus.
- Der zweite Teil wird bei einer Bedrohung aktiviert, ist unsere Alarmstufe Gelb und wir reagieren mit Angriff oder Flucht. Stephen Porges nennt diesen Teil sympathischer Vagus.
- Der dritte Teil wird nur im äußersten Notfall aktiviert, ist unsere Alarmstufe Rot und wir erstarren oder erschlaffen in einer Gefahrensituation.
Dabei ist wichtig zu wissen, dass das autonome Nervensystem mit dem Hormon- und Immunsystem zusammenspielt. Denk daran, wie du den Adrenalin-Kick spürst, wenn du erschreckt wirst oder eine Hochschaubahn hinunterfährst.
Welcher Teil des Vagusnervs ist nun aktiv?
Wie wir in Gefahrensituationen reagieren, also welcher der drei Teile des Vagusnervs aktiv ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab:
- Einerseits haben wir Reaktionsmuster in uns eingespeichert, die bis zum ersten Einzeller vor 3,8 Mrd. Jahren zurückreichen und noch immer in uns zum Einsatz kommen. Wissenschaftlich nennt sich dieser Bereich Phylogenetik.
- Zum anderen werden durch die Lebensweise und Erfahrungen unserer Eltern und weiteren Vorfahren Gene unseres Erbmaterials ein- oder ausgeschaltet, die dann als aktives oder inaktives Gen weitervererbt werden. So kommt es, dass manche Eigenschaften in einer Familie gehäuft vorkommen. Ich selbst zum Beispiel habe Angst davor, in ein Gewässer zu gehen, bei dem ich nicht bis auf den Grund sehe. Meine Mutter, Großvater und Urgroßmutter hatten dieselbe Angst. In der Fachwelt nennt man diesen Bereich Epigenetik.
- Der dritte Faktor bezieht sich auf unser gegenwärtiges familiäres, gesellschaftliches und kulturelles Umfeld. Von unseren Eltern, von der Gesellschaft und auch der jeweiligen Kultur wird uns vorgelebt, wie wir optimal leben sollen. Ist jemand vom christlichen Glaubenssatz „wirst du auf die rechte Wange geschlagen, so halte auch die linke hin“ geprägt, so wird sich diese Person eher unterordnen als zu ihren Bedürfnissen zu stehen und sie durchsetzen. Diesen Bereich nennt man Ontogenetik.
Verfälschte Wahrnehmung
Alleine durch das Zusammenspiel der oben genannten drei Faktoren ist es schon sehr komplex, wie unser vegetatives System im Alltag reagiert. Noch komplizierter wird es, weil wir unterschiedliche Arten der Wahrnehmung haben:
- Es gibt die äußere Wahrnehmung, also das was wir mit unseren fünf Sinnen sehen, hören, riechen, schmecken und spüren. Alles was wir in unserer Umwelt wahrnehmen, wird sofort mit unseren Erfahrungen abgeglichen und interpretiert. Du siehst bei einem roten Apfel ein anderes rot als ich. Beobachte mal, wie oft du mit jemanden über einen bestimmten Farbton diskutierst – für dich ist es ein türkisgrün, für jemand anderen ein klares blau. Für dich ist eine Speise süß, für mich nicht, usw.
- Und dann gibt es noch die innere Wahrnehmung, das sind alle Wahrnehmungen aus dem Inneren unseres Körpers. Das Gefühl des Hungers oder Durst sind hier als einfache Beispiele zu nennen, aber auch angespannte Schultern, Schmetterlinge im Bauch, usw.
Prinzipiell ist unser Organismus mit 11 Millionen Informationseinheiten pro Sekunde aus unserem internen und externen Wahrnehmungssystem konfrontiert, aber nur 40 Informationseinheiten schaffen es in unser bewusstes System. Du kennst sicher Situationen, in denen du etwas nicht siehst, obwohl es direkt vor deinen Augen liegt oder du spürst deine angespannten Schultern nicht.
Daher kommt es auch, dass sich Menschen, die in ein und derselben Situation anwesend waren, unterschiedliche Geschichten über diese Situation erzählen und beide behaupten, dass sie die „Wahrheit“ sagen.
Unsere Gesellschaft fokussiert sich immer mehr auf das Äußere, auf Äußerlichkeiten, auf die äußere Wahrnehmung und wir verlieren immer mehr den Bezug zu dem was in uns vorgeht. Da erstaunt es nicht, dass Techniken, Workshops, Bücher, usw., in denen wir lernen sollen, uns wieder zu spüren, wieder auf unser Innenleben zu hören, boomen.
Fazit
Das vegetative System ist die mächtigste Kraft in uns, mächtiger als der „denkende Verstand“ oder auch Ratio genannt. Für dich soll dieser Blogartikel keine Entschuldigung oder Rechtfertigung für dein Verhalten im Sinne von „Na, ich kann ja nichts dafür, mein vegetatives System ist schuld, dass ich so wütend bin“ sein. Dieser Artikel soll dir helfen, dich besser zu verstehen und zu erkennen, dass du in manchen Situationen anders handelst als dein bewusster Verstand es gerne hätte.
Wenn du den Eindruck hast, dass dein vegetatives System aus dem Gleichgewicht geraten ist, kannst du sehr wohl etwas dagegen tun. Jeder Mensch, wie auch jedes Tier hat einen Selbstregulierungsmechanismus, um das natürliche Gleichgewicht wieder herzustellen, und das ganz ohne von außen einzugreifen. Darüber schreibe ich in meinem nächsten Blogartikel.